Der Schwerpunkt des Projektes liegt auf der Erforschung des „Ursprungs und der Entwicklung der hethitischen Kultur im mittleren Schwarzmeergebiet“. Der nördliche Teil des hethitischen Kernlandes mit der Hauptstadt Hattuša nimmt vom Beginn der Überlieferung an einen wesentlichen Raum im hethitischen Schrifttum ein. Bereits der erste hethitische König, der sich mit einiger Sicherheit historisch einordnen läßt, richtete wahrscheinlich einen seiner ersten Feldzüge in diesen Bereich und dehnte schon sehr früh den hethitischen Einfluß bis an das Schwarze Meer aus. Nach dem Bild, das sich aus den inschriftlichen Quellen gewinnen läßt, stellen die beiden bedeutendsten hethiterzeitlichen Städte in dieser Region, Nerik und Zalpa, wichtige Fixpunkte für die Ausbildung der hethitischen Kultur insgesamt dar, wie man sie dann mit dem Einsetzen der eigenen schriftlichen Überlieferung konkret greifen kann. Es ist mit Sicherheit ebenfalls davon auszugehen, daß beide Städte auch schon vorher, d.h. in der ersten Hälfte des 2. Jahrtausends von überregionaler Bedeutung waren, also jeweils noch deutlich ältere Traditionen weiter wirksam blieben bzw. in modifizierter Form Teil der hethitischen Kultur wurden.
So ist etwa die Stellung des hethitischen Königs bzw. das hethitische Königtum selbst seit alters her auf das engste mit der Stadt Zalpa verbunden. Die ältesten Quellen über die Stadt Zalpa stammen bereits aus der Zeit der altassyrischen Handelskolonien in Kleinasien. Näheres über die Geschichte des nordanatolischen Zalpa erfährt man jedoch vor allem aus den hethitischen Quellen, an erster Stelle aus dem Anitta-Text, dessen historischer Bericht wohl mehr als 100 Jahre zurückreicht und dessen detaillierte Schilderung den Schluß nahelegt, daß es in vorhethitischer Zeit eine Beziehung zwischen beiden Städten gab, in der anscheinend Zalpa die dominierende Stadt war. Vielleicht gehörte Hattuša zum Einflußgebiet eines inneranatolischen Fürstentums mit Sitz in Zalpa. Dies könnte die bekannte Erwähnung der Stadt am Ende des Anitta-Textes erklären, wo eine jüngere Überlieferung den Stadtnamen durch die Erwähnung des Throngemaches ersetzt.
Nerik dagegen war eines der wichtigsten traditionellen Zentren der vorhethitischen Kultur der Hattier, die im Hethiterreich aufgegangen sind, aber in vielen Bereichen wie im Kult, in Religion und Mythos, aber auch in Verwaltung und Herrschaftsvorstellung und -organisation, gar bis in die Titulatur der hethitischen Könige prägend waren. In der auf die althethitische Zeit zurückgehenden Fassung der hethitischen Gesetze genießen nur drei Städte, neben Nerik noch Arinna und Ziplanda, die wichtigsten hethitischen Städte nach der Hauptstadt selbst, das Vorrecht der Lastenfreiheit. Dies unterstreicht die große Bedeutung, die dieses regionale Zentrum besessen haben muß. Der Illujanka-Mythos und eines der hethitischen Haupt-Kultfeste, das purullijaš-Festritual, haben hier ihren Ort. Das Pantheon der Stadt, insbesondere der Wettergott von Nerik, der auch der persönliche Gott eines so bedeutenden Königs wie Hattušili III. war, und ein spezieller Kultort in Nerik, der den Namen dahanga trägt, nehmen innerhalb der religiösen Vorstellung der Hethiter einen zentralen Platz ein. Dies gilt selbst für die Zeit, als aus historischen Gründen im 15./14. Jahrhundert die unmittelbare politisch-administrative Kontrolle dieses Gebietes vom hethitischen Königtum nicht mehr gewährleistet werden konnte. Verantwortlich dafür sind die an Schärfe zunehmenden Auseinandersetzungen mit den Kaschkäern, deren Identität allerdings bislang ebensowenig geklärt ist wie ihr genaues Siedlungsgebiet, das nördlich der Linie Merzifon-Amasya zwischen Sinop im Westen und Ordu im Osten angesetzt wird.
Im 13. Jahrhundert wird durch Hattušili III. das gesamte nördliche Zentralanatolien systematisch reorganisiert, es werden umfangreiche Wiederansiedlungsmaßnahmen durchgeführt, Kulte reformiert und Kultstätten restauriert, in erster Linie jene von Nerik. Damit ist auch dieses Gebiet wieder fester Bestandteil des Großreiches bis zum Ende der hethitischen Geschichte. Die bleibende Bedeutung Neriks illustriert die Aufnahme der Stadt in das große nuntarrijahšaš-Reisefest oder auch der umfangreiche, zahlreiche mythologische Motive verarbeitende Ritualtext KUB 36.89 aus dem 13. Jahrhundert.
Auch wenn die historische Geographie des nördlichen Zentralanatolien in hethitischer Zeit noch viele Fragen im Detail aufwirft, so besteht doch in der Forschungsliteratur seit geraumer Zeit eine weitgehende Einigkeit dahingehend, daß Nerik in einem Raum nördlich von Vezirköprü-Havza gelegen haben müßte. Quellen dafür sind neben dem großen Hattušili-Text vor allem verschiedene Feldzugsorakel (z.B. KUB 5.1) oder eine Passage wie die folgende: „Der Fluß Maraššantija [i.e. Kızılırmak] floß früher einen anderen Weg. Der Wettergott aber änderte ihn und ließ ihn für die Sonnengottheit der Götter nahe von Nerik fließen.“
Für eine Identifikation mit dem Ruinenhügel von Oymaağaç in unmittelbarer Nähe des Kızılrmak haben sich deshalb J. Yakar und A. Dinçol sowie M. Forlanini, einer der besten Kenner der historischen Geographie, ausgesprochen. Insbesondere die Geländebegehungen durch Dinçol und Yakar im Gebiet von Durağan, Kargi, Osmancik und Gümüşhaciköy, also genau dort, wo Nerik lange Zeit von Güterbock, Haas und ten Cate gesucht wurde, ergaben, daß in besagter Gegend kein Siedlungsplatz in Flußnähe existiert, der für Nerik in Anspruch genommen werden könnte. Auch die in den Texten beschriebene Lage in einem dicht besiedelten Landstrich – Hanhana, Tanziliya, Astigurka, Talmaliya, Zihhana und Inpapaena werden in der Umgebung erwähnt– paßt eher zur Umgebung von Oymaağaç-Vezirköprü als zu Kargi. Schließlich lassen sich die „Leute des Berges (oder besser des Gebirges) Haharwa“ gut mit dem nördlich an Oymaağaç grenzenden, noch völlig unerforschten Bergland in Verbindung bringen. Diese Argumente zusammen genommen bilden den Grund dafür, daß auch der Tübinger Atlas des Vorderen Orients „Nerik“ in Oymaağaç ansetzt (TAVO B III 6).
Obwohl wir die eben skizzierte Argumentation für überzeugend halten und davon ausgehen, daß Oymaağaç der mit Abstand beste Kandidat für Nerik ist, sollte man doch auf eine immerhin denkbare Alternative hinweisen: Wir sind oben bereits auf die zweite bedeutende Stadt Nordanatoliens in dieser Zeit, Zalpa, kurz eingegangen. Auch für Zalpa besteht in der bisherigen Diskussion weitgehende Einigkeit, was seine Lokalisierung angeht. Auch bei Zalpa ist klar, daß die Stadt in unmittelbarer Nähe des Kızılırmak gelegen haben muß. Als entscheidend gilt aber vor allem eine Stelle aus dem sogenannten Zalpa-Text KBo 22.2: Im Zusammenhang mit der Erzählung von einer Aussetzung von Kindern, die in einem Körbchen vom Fluß Maraššantija [= Kızılırmak] weggetragen werden, heißt es (Vs. 3f.) „Und der Fluß brachte (sie) zum Meer nach dem Lande Zalpuwa. Die Götter aber nahmen die Kinder aus dem Meere auf und zogen sie groß.“ In der Tat liegt zunächst der Schluß nahe, Zalpa müsse deshalb an der Flußmündung ins Meer, d.h. ins Schwarze Meer gelegen haben und Zalpa wäre also in unmittelbare Küstennähe zu suchen, etwa in der Gegend des heutigen Bafra. Aber bei genauer Betrachtung der letztlich nicht so eindeutig formulierten Textstelle fällt besonders auf, daß hier nicht direkt von der Stadt Zalpa, sondern vom Land der Stadt Zalpa, nämlich Zalpuwa, die Rede ist. Und selbst wenn dieses bis an das Mündungsgebiet des Flusses reicht, so bedeutet dies nicht zwingend, daß tatsächlich Zalpa selbst ebenfalls dort gelegen haben muß. Es wäre durchaus denkbar, vor allem wenn man berücksichtigt, daß die zahlreichen Belege für Zalpa in den altassyrischen Texten, die sich auf diese Stadt beziehen, keineswegs eine unmittelbare Beziehung zum Meer herstellen, daß Zalpa selbst zwar am Maraššantija, aber vielleicht doch noch etwas weiter im Hinterland gelegen haben könnte. Es wäre also unseres Erachtens nicht ausgeschlossen, daß der Ruinenhügel von Oymaağaç womöglich gar Zalpa birgt. Letztlich definitiv beantworten wird sich dies erst lassen, wenn eine Ausgrabung entsprechende Informationen liefert.